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aventinus recensio Nr. 27 [31.08.2011] 

Yves V. Grossmann 

Petra Bopp: Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld: Kerber Verlag 2009. 29,80. ISBN 978-3-86678-294-5.

 

Eine einsame Frau watet durch einen seichten Fluss. Diese Fotografie ist Teil eines Fotoalbums aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie zeigt ein Kriegsverbrechen: die sowjetische Bäuerin wurde von Wehrmachtsangehörigen als Minensucherin durch den Fluss geschickt. Der gleichnamige Katalog zu der Wanderausstellung „Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“ in Oldenburg, München, Frankfurt am Main und Jena von der Historikerin Petra Bopp, wird in einer weiteren Auflage erscheinen – eine seltene Ehre für einen Katalog. 

Die Ausstellung und ihr Katalog konzentrieren sich auf die Fotoalben deutscher Wehrmachtsangehöriger. Die zentrale Fragestellung ist, in welcher Weise die Soldaten ihre Kriegserlebnisse in ihren eigenen Alben verarbeiteten. Welche symbolischen Formen meinen wir heute zu sehen? Was können sie uns über die Mentalität der Kriegsgeneration mitteilen? (S. 10) Eine systematische nationale Sammlung von Fotoalben gibt es derzeit noch nicht. Die überwiegende Mehrheit aller erhaltenen Alben dürfte noch in Wohnzimmern, auf Dachböden und in Kellern zu finden sein. Ähnlich wie bei Jens Ebert und dem Deutschlandfunk mit Feldpostbriefen aus Stalingrad 2002/03 [1] gelang es, zusammen mit der niedersächsischen Regionalpresse, an die 150 Konvolute aus dem Familienbesitz der Enkelgeneration zu sichern und erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. (S. 8ff)

Die deutsche Forschung zu Fotoalben in der Visual History entwickelt sich zusehends. Dieser Quellenkorpus zeugt immer wieder von seiner innewohnenden Vielschichtigkeit und einer neuen Kontextualisierung. [2] Der Umgang mit Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg birgt aber auch etliche Tücken. Die erste Wehrmachtsausstellung wurde nicht grundlos neu gestaltet. In diese Gefahr kommt das Buch hingegen nie. Das DFG-Forschungsprojekt zur Privatfotografie der Wehrmachtssoldaten von Bopp in Oldenburg bzw. Jena steht hinter der Ausstellung „Fremde im Visier“ und zeugt von wissenschaftlicher Qualität.

Die Überlieferung setzt in einer „schönen Zeit“ ein, der Feldzug gegen Frankreich 1940 und der anschließende Sieg über den „Erbfeind“ aus dem Ersten Weltkrieg finden viel Platz in deutschen Fotoalben. Sie sind nicht nur ein signifikantes Beispiel der Selbst- und Fremddarstellung der Zeit, sondern es gelingt Bopp darüber hinaus eine große Bandbreite von Situationen, Intentionen und Beziehungen aufzuzeigen. Geschickt kommt die Darstellung zu Fotoalben als Sammlungsobjekt, die Kamera wird als „optischer Panzer“ besprochen und in die technischen Besonderheiten der Fotografie während des Krieges eingebettet. Den quantitativ größten Raum nimmt der deutsche Angriff auf die Sowjetunion ein. Das Quellenmaterial zum Krieg im Osten ist authentisch. Es zeugt weniger von Bildern der Propagandakompanien, sondern vielmehr vom Alltag des Kriegswahnsinns. Der deutsche Kampf gegen „Partisanen“ in der UdSSR bildet einen zweiten Part. Der Krieg hinter der Front im Osten ist ebenso in den Alben präsent wie das Fronterlebnis. Rollte die Wehrmacht siegestrunken und mit der Kamera bewaffnet gen Osten, so findet der Rückzug gen Westen keinen Weg mehr in private Fotoalben. Der Ausstellungskatalog zu privaten Fotoalben aus dem Zweiten  Weltkrieg schließt mit zwei Alben aus der Kriegsgefangenschaft in Ägypten und der Sowjetunion ab.

„Fremde im Visier“ ist ein gelungener Katalog. Nicht nur der Inhalt kann überzeugen, auch der Kerber-Verlag präsentiert ein ausgewogenes Buch. Die graphische Gestaltung entspricht einer guten Lesetypografie, das Layout ist sinnvoll gestaltet und der Druck steht dem in nichts nach. Besonders hervorzuheben ist die sehr gute farbige Reproduktion der Bilder im Druck – leider noch keine Selbstverständlichkeit in der deutschen Geschichtswissenschaft. Häufig werden vollständige Albenseiten gezeigt. Nicht alle Bilder sind beschnitten, sodass der gezackte Büttenrand oder der glatte Rand sichtbar sind. Die Fotografien wurden nicht retuschiert und werden in der original schwankenden Qualität wiedergegeben. Die Bilder sind eben keine bloße Illustrationen, sondern wirkliche Quellen. 

Der sehr positive Gesamteindruck wird hin und wieder leicht getrübt. So werden leider zu wenige Themen besprochen bzw. zu viele beiseitegelassen. Wieso sind überwiegend norddeutsche Fotoalben ausgewertet worden? Unterscheiden sie sich gar überhaupt von süddeutschen? Wieso sind nur Bilder der Landstreitkräfte zu sehen? Zwar galten bei Marine und Luftwaffe strengere Bildverbote, aber auch dort wurde abgelichtet. Wieso fehlen Bestände zu den Kriegsschauplätzen in Polen, Afrika und dem Balkan, während die (Nach-)Kriegsgefangenschaft in Afrika und der Sowjetunion vertreten ist? Waren die Kompaniealben gewissermaßen Vorbilder für die privaten Fotoalben und hatte der truppeneigene „Fotograf“ Einfluss auf die Bildästhetik seiner Kameraden? Und inwiefern übernahm der Einzelne Bildmaterial von Anderen und damit vielleicht doch unbewusst von Bildberichterstattern aus den Propagandakompanien? Eine umfangreichere Bibliografie mit einer thematischen Ordnung wäre sinnvoll gewesen.

So ist das Buch „Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“ von Petra Bopp ein sehr guter Ausstellungskatalog, aber eben doch kein abschließendes Überblickswerk. Es bleibt dem Buch zu wünschen, dass es im Fach und darüber hinaus rezipiert wird. Dass es den Weg in jede gut sortierte Bibliothek finden wird, ist selbstverständlich. 

Anmerkungen

  • [1]

    Feldpostbriefe aus Stalingrad, November 1942 bis Januar 1943, hrsg. von Jens Ebert, Berlin 2006. 

  • [2]

    Vgl. beispielsweise Cord Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus: Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950-1990 (= Schriftenreihe Studien zur Zeitgeschichte 34), Hamburg 2003 (zugl. Diss. Berlin, Freie Univ. 2003). 

Empfohlene Zitierweise

Grossmann, Yves V.: Rezension Petra Bopp: Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld: Kerber Verlag 2009. 29,80€. ISBN 978-3-86678-294-5. aventinus recensio Nr. 27 [31.08.2011], in: aventinus, URL: https://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9028/

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Erstellt: 31.08.2011

Zuletzt geändert: 31.08.2011

ISSN 2194-2137

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