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aventinus visio Nr. 2 [30.04.2012] 

 

Andrej Bagoutdinov 

Reflexionen im Weltraum 

Das Spiegelmotiv und die Materialisierung des Unbewussten in Andrei Tarkovskijs Solaris [1] (1972)

 

Aus irgendeinem Grund zwingen die Autoren der Science-Fiction-Filme, die ich bisher sehen musste [sic], den Zuschauer dazu, diejenigen Details zu betrachten, die den materiellen Aufbau der Zukunft beschreiben. [Übersetzung des Autors] [2]

- Andrei Tarkovskij 1971 

 

Hat die persönliche Geschichte eines Wissenschaftlers Einfluss auf seine Erkenntnisse und Arbeiten? Wie behandelt ein Historiker eine filmische Quelle, welche die Bewältigung der persönlichen Vergangenheit von Naturwissenschaftlern in den Mittelpunkt rückt? Mit diesen Fragen sieht man sich im Film Solaris von Andrei Tarkovskij konfrontiert [3]. Einerseits schafft der sowjetische Regisseur, indem er die individuelle Vergangenheit seines Protagonisten, des Psychologen Kris Kelvin, in den Mittelpunkt des Filmgeschehens rückt, „reflexiv“ wirkende Situationen. Er generiert beispielsweise durch Filme, Fotografien, Malerei und Spiegel Abbilder der gegenwärtigen und vermeintlich vergangenen materiellen Welt und fordert den Zuschauer auf diese Weise zur Reflexion über die Beziehung zwischen materieller und unbewusst wahrgenommener Wirklichkeit auf. Andererseits wird durch Kameraeinstellungen, Szenenbilder und Dialoge eine Umgebung geschaffen, welche die Grenze zwischen Materiellem und Unbewusstem in Frage stellt. Das Ziel dieses Essays ist zu zeigen, dass Tarkovskij durch die Art, wie er das Spiegelmotiv filmisch einsetzt, der materialistischen Weltsicht der Kultur und Wissenschaft der 1970er Jahre Schwachstellen attestiert. Solaris ist somit als filmisches Medium zu betrachten, mit dessen Hilfe Tarkovskij, die psychische Seite der menschlichen Existenz betonend, dem Zuschauer die Gleichrangigkeit, ja enge Verflechtung von Unbewusstem und Materiellem nahe zu bringen versucht.

Dem befremdlichen Planeten Solaris und seinen rätselhaften Naturgesetzen stellt Tarkovskij zunächst die vertraute Heimat des Protagonisten voran: Der Film beginnt in der ländlichen Idylle von Kris Kelvins Heimat und dessen Vaters Haus. Diese äußerliche Idylle trügt jedoch, und es offenbart sich, dass Kris' Beziehung zu seiner Familie angespannt ist: Seine Mutter ist abwesend; sie verstarb entweder früh oder verließ die Familie. Das Verhältnis zu seinem Vater gestaltet sich angesichts seines risikoreichen und langwierigen wissenschaftlichen Auftrags im Weltall, des bevorstehenden Fluges zum Planeten Solaris und der Herstellung der Kommunikation mit diesem angeblich belebten Himmelskörper, schwierig. Wie sich im Laufe des Films herausstellen wird, hat sich vor einigen Jahren Kris Kelvins frühere Lebensgefährtin Hari nach der Trennung das Leben genommen. Der ehemalige Kosmonaut Berton, ein Bekannter von Kris' Vater, trifft ein und äußert ein Anliegen: Die Kommunikation mit dem Planeten Solaris solle nicht mit Gewalt hergestellt werden, wie es die Missionsleitung vorgibt, sondern mit Bedacht und unter Wahrung der Unversehrtheit dieses unbekannten Lebewesens. Berton selbst konnte nämlich im Rahmen seines eigenen Erkundungsfluges über Solaris vor einigen Jahren außergewöhnliche Phänomene auf der Planetenoberfläche beobachten. Ein Streit bricht zwischen Kris, seinem Vater und Berton aus, wodurch deutlich wird, dass bereits die Kommunikation auf der Erde nicht unproblematisch ist: Kris will die Verständigung mit Solaris notfalls gewaltsam durch den Einsatz von Strahlenbombardements herstellen, um dem Planeten dadurch Zeichen zu entlocken. Zur Versöhnung zwischen Vater und Sohn wird es jedoch erst in der letzten Szene des Filmes kommen, aber anders als erwartet.

Kris’ Ankunft auf Solaris wird bald von einem Phänomen begleitet, das im Folgenden näher untersucht werden soll: der Auflösung der Grenze zwischen Unbewusstem und Materiellem. Der Tag-Nacht-Rhythmus verläuft außerhalb der bekannten Zyklen und führt sowohl bei Kris und seinen Kollegen als auch beim Zuschauer schnell zu einem Gefühl der Zeitlosigkeit. Jedesmal, wenn Kris schlafend gezeigt wird, dringen warme Lichttöne aus den verglasten Luken in der Bordwand der Raumstation, doch wenn er wach ist, blickt er abwechselnd in dieselben dunklen und hellen Luken. Ferner löst sich die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum während seines ersten Schlafs an Bord der Raumstation auf: Die Kamera vergrößert sein schlafendes Gesicht, als plötzlich ein ebenso vergrößerter Teil einer weiblichen Gesichtshälfte erscheint. Die Kamera rückt das Gesicht weiter weg und zeigt eine sitzende Frau, von der Kris Kelvin offenbar gerade träumt, denn nachdem die Kamera das Bild so weit verkleinert hat, dass man sehen kann, wie die sprichwörtliche Traumfrau sich zu ihm legt, erschrickt Kris nicht: Er zieht sie sogar an sich und entdeckt wenig später verblüfft, dass er nicht mehr wie gewohnt zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann. Eine derartige Erschaffung eines menschlichen Körpers aus einem Traum folgt nicht den gängigen materiellen Prinzipien, sondern vollzieht sich aus Kris' Unbewusstem. Diese Entstehung eines materiellen Menschen aus dem Unbewussten verstört nicht nur ihn selber, sondern auch die restliche Besatzung, allesamt Naturwissenschaftler und Techniker. Denn auch die anderen drei Mitglieder der Raumstation leiden unter ihren persönlichen, fleischgewordenen Traumgestalten: materialisierten jungen Frauen bzw. Kindern, so dass die wissenschaftliche Arbeit auf der Raumstation nahezu zum Erliegen kommt. Eine wie auch immer geartete Kommunikation mit dem Planeten kann vorerst nicht stattfinden, da die bisher bekannten Naturgesetze und Bedingungen nicht mehr gültig scheinen, seitdem die frühere Besatzung der Raumstation Solaris mit Strahlung beschossen hatte.

Die Erschaffung von Hari folgt einem simplen Prinzip: der Reflexion. Solaris gleicht daher im ersten Moment keinem Lebewesen, sondern einem Spiegel für das Unbewusste der Besatzung, der die Träume der Besatzung festhalten und materialisieren kann. Zieht man Umberto Ecos Definition konstitutiver Merkmale eines Spiegels zu Rate, so stellt man fest, dass die Grundvoraussetzungen für dessen Funktionsweise gegeben sind [4]:

  1. Solaris fungiert als Prothese, „die es uns erlaubt, visuelle Reize auch dort wahrzunehmen, wo unsere Augen nicht hingelangen“; in diesem Fall das Unbewusste und das Erinnerungsvermögen von Kris. 

  2. Solaris ist ein Medium und transportiert Informationen; in diesem Fall die Erinnerung an einen Menschen, Kris' ehemalige Lebensgefährtin Hari. 

  3. Das Spiegelbild Hari wird von einem anderen Objekt „determiniert“ [5], dem sog. Referenten des Bildes, in diesem Falle von Kris und seinem Erinnerungsvermögen, und ist an die Begrenzungen des Spiegels gebunden. Hari kann außerhalb von Solaris nicht materiell existieren.

Die sonst übliche räumliche Trennung zwischen Spiegelbild und Referent ist jedoch nicht mehr gegeben. Inmitten dieses Spiegelkabinetts existieren Hari und Kris im selben Raum, wodurch Kris Kelvin selbst immer mehr zum Spiegelbild wird. 

Dies erklärt auch, weshalb keine erfolgreiche Kommunikation mit Solaris möglich ist: Solaris wirkt nur reflektierend und kombiniert erst in der letzten Szene bereits bekannte Zeichen zu einem neuen [6]. Bilden traditionell naturwissenschaftliche Gesetze und technische Praktiken den Kern des Science Fiction-Genres, so geht es hier um die Verwischung und endgültige Auflösung aller Grenzen: der Grenzen zwischen Tag und Nacht, Realität und Traum, Materie und Unbewusstem. Das Spiegelmotiv steht für die Materialisierung von Erinnerungen und Wünschen und rückt das Unbewusste, die persönliche Geschichte und die traumatischen Erfahrungen des Protagonisten in den Vordergrund, also für die Science-Fiction atypischere Themenkomplexe. Tarkovskij bedient sich des Genres, um die naturwissenschaftlich erfassbaren Grenzen der menschlichen Wahrnehmung radikal zu hinterfragen, statt diese durch einen reibungslosen kommunikativen Ablauf zu affirmieren. Dadurch meldet er Kritik an der materialistischen Gebundenheit und Sicht des Menschen an.

Kelvin kann daher der Gegenwart der materialisierten Hari auch nicht entgehen, wie er seinem eigenen Unbewussten nicht entkommen kann. Solaris schafft nach jedem Versuch der Besatzung, ihre Besucher zu töten, neue Kopien bzw. heilt sie augenblicklich, wenn sie sich verletzt haben. Als Hari nun auch dieselben Verhaltensweisen aufnimmt wie ihr reales Pendant und sich wieder und wieder umbringt, um nach den auf Solaris herrschenden Gesetzen jedesmal von Neuem zu erstehen, wird auch Kris Kelvin wieder in den verwandelt, der er in der Vergangenheit war: Er muss Haris Suizide stets aufs neue qualvoll durchleben, da Solaris seine Partnerin immer wieder materialisiert. 

Dank der reflexiven Eigenschaft des Planeten wird deutlich, dass Kris, anders als er sich vorgegaukelt hat, Haris Selbstmord unablässig unbewusst durchlebt hat: Niemand kann seine Vergangenheit loswerden. 

Die Ratlosigkeit, die aus dem sich ständig wiederholenden Erleben der eigenen Geschichte resultiert, und die Unfähigkeit der naturwissenschaftlich verbildeten Besatzung, die plötzlich erschienenen Gäste als das zu sehen, was sie sind, nämlich als Ikonen bzw. Duplikate einer Spiegelung der Erinnerung, lassen Kris Kelvins wissenschaftliche Aufgabe scheitern. Er sieht sich vor die Wahl gestellt, Haris Existenz zu akzeptieren, damit aber seine eigene materielle Existenz zu relativieren, oder aber sie abzulehnen. Damit wäre jedoch seine materielle Existenz nicht mehr hinreichende Bedingung für Existenz an sich. Rein materialistisch ist die Frage nach der Beziehung von Referent und Spiegelbild nicht mehr zu begreifen. Kris entscheidet sich für den ersten Weg. Letztendlich ist nur die Projektion der Hirnströme Kelvins, einem undurchschaubaren Gefüge von Gedanken, Ideen, Erinnerungen und Gefühlen in der Lage, Solaris davon abzuhalten, Hari immer wieder zum Leben zu erwecken. Mit Hilfe des Materialisten Sartorius, der einen physikalischen Weg gefunden hat, Hari schnell und human zu entmaterialisieren, löscht sie in einem Akt des liebenden Selbstopfers ihre Existenz aus, um Kris ein Weiterleben zu ermöglichen. Der Freitod der „Traumfrau“ Hari stellt die Grenze zwischen Materiellem und Unbewusstem wieder her. Solaris verzichtet nach der Übermittlung von Kelvins Hirnströmen darauf, weitere Kopien von Hari zu erschaffen. Kris Kelvin ist erleichtert, wenn auch nachdenklicher geworden. Vor allem scheint der sonst so selbstsichere Sartorius grüblerischer als sonst. 

Der Film Solaris kann, da er zentrale gültige Naturgesetze und Erkenntnistheorien außer Kraft setzt, als ein kommunikativer Akt verstanden werden, der angesichts der fortschreitenden Eroberung des Weltraums die wissenschaftlichen Fundamente seiner Gegenwart radikal hinterfragt. Nicht zuletzt erinnert die ständig erwähnte Möglichkeit, auf Strahlenbombardements zurückgreifen zu können, an die zunehmende Bewaffnung des Weltraums im Kalten Krieg. Der Film bezieht diesbezüglich eindeutig Stellung, denn die Entscheidung der Besatzung der Raumstation, den Planeten Solaris mit Strahlen zu beschießen, setzt ihrer Fähigkeit, die Umwelt wie bisher zu begreifen und zu gestalten, ein jähes Ende. Der Film impliziert also auch eine Kritik an den politischen Verhältnissen der Blockkonfrontation seiner Gegenwart, die das Vernichtungspotenzial der Weltraumwaffen fürchten musste. 

Die letzte Szene des Films kehrt zu dessen Anfängen zurück: Sie beginnt erneut in der paradiesischen Natur um das Haus von Kris’ Vater und verläuft nahezu identisch. Der Sohn scheint nach seiner Odyssee aus dem Weltraum zurückgekehrt und versöhnt sich mit seinem Vater. Doch auch hier lassen verschiedene filmische Zeichen wie z. B. der Regen, der innerhalb geschlossener Räume auf Kris' Vater niederfällt, nur den Schluss zu, dass die bekannten Naturgesetze nun dauerhaft außer Kraft gesetzt sind und die Szene gar nicht auf der Erde spielt: Die letztendliche Versöhnung zwischen Kris Kelvin und seinem Vater findet offenbar auf Solaris statt. Damit hat der Zuschauer beinahe jede Sicherheit verloren. Diese filmische Auflösung der Grenzen zwischen Realität und Imagination, zwischen Materie und Unbewusstem bildet somit die Kulmination des Arguments, die Existenz des Menschen sei ebenso sehr von seinem Unbewussten bestimmt, d. h. von seinen Erlebnissen, Träumen und Erinnerungen, wie von der materiellen Wirklichkeit. Die uns in der Vergangenheit nahen Menschen, unsere Erfahrungen und Traumata sind im Spiegel unserer Erinnerung, unseres Gewissens und Unbewussten ebenso real wie unsere Vorstellung vom eigenen Ich und unsere materielle Umgebung. Tarkovskij zeigt mit Solaris, dass der Wissenschaftler bei der Erforschung dieser Umgebung das Unbewusste und dessen Spiegelbilder nicht außer Acht lassen sollte.

Quellenverzeichnis 

Solaris, SU 1972, Produktion: Künstlerische Vereinigung der Schriftsteller und Filmschaffenden / Mosfilm. Produzent: Viacheslav Tarasov. Regie: Andrei Tarkovskij. Buch: Fridrikh Gorenshtein/ Andrei Tarkovskij, nach dem gleichnamigen Buch von Stanislaw Lem. 167 Min. 

Literaturverzeichnis 

Abramov, Naum: Dialog s Andreiem Tarkovskim o nauchnoi fantastike na ekrane, Moskau 1971, URL: http://tarkovskiy.su/texty/Tarkovskiy/Abramov.html (30.04.2012).

Ebert, Roger: Solaris, Chicago 2003, URL: http://rogerebert.suntimes.com/apps/pbcs.dll/article?AID=/20030119/REVIEWS08/301190301/1023 (30.04.2012)

Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. München 1990. 

 

Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Zeitgeschichte des Historischen Seminars der LMU München.

 

Anmerkungen

Empfohlene Zitierweise

Bagoutdinov, Andrej: Reflexionen im Weltraum. Das Spiegelmotiv und die Materialisierung des Unbewussten in Andrei Tarkovskijs Solaris (1972). aventinus visio Nr. 2 [30.04.2012], in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9387/

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Erstellt: 24.04.2012

Zuletzt geändert: 22.08.2013

ISSN 2194-3427