Varia

  / aventinus / Recensio / Varia

aventinus recensio Nr. 33 [30.08.2012]

Yves V. Grossmann

Sarah Lowndes: Social Sculpture. The Rise of the Glasgow Art Scene, Edinburgh: Luath Press Limited 2010, 2nd edition. 444 Seiten. 14,99£. ISBN 9781906817596.

 

Glasgow, die Kulturhauptstadt Europas des Jahres 1990 und eines der ehemaligen Industriezentren der British Isles, vereint wie wenige Städte im United Kingdom Kunst und Kultur mit einer langen Tradition als Arbeiterstadt. Die Stadt von Saint Mungo an der Clyde stand und steht häufig im Schatten des omnipräsenten London und der kleineren schottischen Hauptstadt Edinburgh. Nach einem goldenen Zeitalter für Glasgow im 19. Jahrhundert mit seinen weltweit führenden Werften und dem lukrativen Transatlantikhandel begann in den 1970er Jahren der wirtschaftliche Niedergang der Region. Dagegen war der wichtige Stand der Kunst und Kunstschaffenden in Glasgow nicht erst seit den Glasgow Boys und der Mackintosh School of Art um 1900 in ganz Europa bekannt. Von der Kunst und der Entwicklung einer neuen und offenen Kunstszene seit den 1970ern handelt Sarah Lowndes Buch „Social Sculpture – The Rise of the Glasgow Art Scene“.

Die Glaswegian Lowndes ist Lecturer an der School of Art und schreibt, kuratiert und lebt in Glasgow. Lowndes verfolgt mit ihrem Buch das Ziel, die Kunst- und auch Sozialgeschichte der Szene der Performance- und Konzept-Kunst in Glasgow seit den 1970ern zu beschreiben. Ihr Buch wurde bei Luath Press Limited 2010 in Edinburgh wieder neu aufgelegt, nachdem die Erstauflage von 2003 längst vergriffen und auch veraltet war. Diese Neuauflage ist keine lediglich korrigierte Version, Lowndes hat die Entwicklung von 2003 bis 2010 eingefügt. Ihre Motivation, diese Geschichte zu schreiben, war auch eine „response to existing histories of Scottish art, which tended to focus on the more traditional work of earlier generations of Scottish artists.“ (S. 8)

Klassisch leitet Lowndes ihr Buch mit einer kurzen Stadtgeschichte zu Glasgow seit dem 19. Jahrhundert ein. Diese ist knapp, anschaulich und gut zusammengefasst. Das zweite Kapitel handelt die ersten Entwicklungen der Kunstszene in Glasgow aber auch in Großbritannien seit den 1960ern ab. Die Kapitelüberschrift „trying to plant a seed on concrete“ beschreibt das Bemühen recht gut. Der Hauptteil des Buchs beschäftigt sich mit dem Geschehen zwischen 1985 und 2003. Und soviel vorne weg, Lowndes überzeugt zweifelsohne durch enormes Faktenwissen und einen hervorragenden Gesamtüberblick über die Thematik. Ein roter Faden erschließt sich dem Leser leider nicht.

Lowndes schreibt ihre Geschichte der Kunstszene nicht als Erfolgsgeschichte etablierter Museen und Galerien – mit denen Glasgow reich gesegnet ist. Als Zentrum vieler Kunstinitiativen etablierte sich die Mackintosh School of Art in der Renfrew Road. Aber viele der Alternativen zur  institutionellen Kunst waren „Grassroots Initiatives“, freie Zusammenschlüsse vieler Künstler. Als Initialzündung wirkte aber auch beispielsweise die Gründung des Environmental Art Department an der School of Art 1985 mit David Harding (S. 84) oder natürlich die Nominierung Glasgows zur Kulturhauptstadt für das Jahr 1990 (Kapitel 4). Eine der Stärken von Lowndes Buch ist die Kontextualisierung der bildenden Kunst. Sie arbeitet hervorragend und vielleicht auch pars pro toto für das United Kingdom das Verhältnis der Kunstschaffenden zum Thatcherismus heraus. Der Fall des Ostblocks, die Devolution Schottlands und der politische Wechsel zu Tony Blair waren immer auch bedeutend für die zeitgenössischen Künstler und Lowndes trägt dem Rechnung. Den ebenso wichtigen Aspekt der Musik in Glasgow hat sie immer Blick, Interdependenzen zwischen den verschiedenen Künstlern finden genügend Platz und werden glücklicherweise nicht ausgeblendet.

Ein Nachteil dieses Buches ist, wie bereits oben erwähnt, der fehlende rote Faden durch alle Kapitel. Lowndes berichtet streng chronologisch und beschreibt alle Ereignisse, Events und Rückschläge. Alles Wichtige und weniger Wichtige findet Erwähnung. Die Fülle an Namen, Orten und Ereignissen ist beträchtlich. Sie arbeitet viele Zeitzeugenberichte, Zeitungsartikel sowie Selbsterlebtes ein, aber vor konsequenten Analysen und Interpretationen macht sie dann doch häufig Halt. Es war daher auch für den Rezensenten leider mitunter nicht leicht, die Orientierung zu behalten. Es hätte sich beispielsweise für einige Aspekte angeboten, die strenge Chronologie zu brechen und sie in eigenen thematischen Kapiteln zu besprechen. Besonders die Vernetzung der Künstler mit London, Berlin und Europa oder die wichtigen Studienaufenthalte vieler Studenten in Kalifornien hätten sich angeboten. Ein nächster Schritt über das Buch hinaus wären vielleicht (Kollektiv-)Biographien der Künstler des betrachteten Zeitraums.

Zum formalen Äußeren: der Druck des Buchs erscheint etwas lieblos. Blendweiße Seiten mit einer Antiqua im erzwungenen Blocksatz und unleserlichen Fussnoten sind nach über 400 Seiten doch eher störend. Die vier Bildteile in schwarz-weiß sind in akzeptabler Qualität wiedergegeben, natürlich wäre ein Farbdruck aber hilfreicher. Irritierend wirkt hingegen, dass die Abbildungen kaum Erwähnungen im Buch finden. Sie sind wie so häufig ein zweiter, bebilderter Erzählstrang, losgelöst vom Text. Eine für ein Überblickswerk so wichtige Bibliographie oder sogar ein Quellenverzeichnis fehlen leider völlig. Das Schlagwortregister ähnelt dem von Medikamentenrezepten, die Schrift ist viel zu klein und im Grunde kaum lesbar.

Trotzdem ist das Buch von Sarah Lowndes als Überblickswerk zur Kunstszene in Glasgow seit den 1980ern absolut weiter zu empfehlen. Es ist essentiell für das Verständnis der britischen Kunstszene, ebenso für die Performance- und Konzept-Kunst in Europa. Als ein sehr vertiefender Reiseführer für die zeitgenössische Kunstszene in Glasgow lässt sich das Buch ebenfalls lesen, es mag aber vielleicht dann doch eine Karte fehlen. Aber auch ohne Lowndes Buch, Glasgow ist immer eine Reise wert.

Empfohlene Zitierweise

Grossmann, Yves V.: Rezension Sarah Lowndes: Social Sculpture. The Rise of the Glasgow Art Scene, Edinburgh: Luath Press Limited 2010, 2nd edition. 444 Seiten. 14,99£. ISBN 9781906817596.. aventinus recensio Nr. 33 [30.08.2012], in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9727/

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse.



Erstellt: 30.08.2012

Zuletzt geändert: 30.08.2012

ISSN 2194-2137

Index