Ideengeschichte

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aventinus varia Nr. 38 [24.02.2013] / PerspektivRäume Jg. 2 (2011) Heft 1, S. 61-70 

Matthias Mühe 

Ratio und Religio 

Zum Verhältnis von Vernunft und Glaube in der christlich-mittelalterlichen Philosophie 

Als Papst Benedikt XVI. am 12. September 2006 eine Vorlesung vor Wissenschaftlern hielt, ahnte er sicherlich nicht, dass ein Teil seines Vortrages später nach dem Veranstaltungsort als „Papstzitat von Regensburg“ benannt weltweites Aufsehen erregen würde, und von vielen Seiten heftig diskutiert werden sollte. Der Papst hatte nämlich aus einem Gespräch zitiert, das der byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos mit einem „gebildeten Perser“ [1] 1391 führte, und in dem der Kaiser den Islam kritisierte. Dabei war das Thema des Vortrags unverdächtig und hinsichtlich des interreligiösen Dialogs fortschrittlich, der angesichts der islamisch-religiös deklarierten Gewalt einerseits und der wachsenden Islamophobie andererseits dringend angeraten schien: Es ging um das Verhältnis von Vernunft und Glaube, also von Ratio und Religio. „Nicht vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“, zitierte Papst Benedikt XVI. den byzantinischen Kaiser und somit den Gedanken, der den Kern des gesamten Vortrags darstellte. [2] Dem westlich geprägten Menschen des 21. Jahrhunderts, für den eine säkularisierte Gesellschaft mit ihrer strikten Trennung religiöser und weltlicher in diesem Fall sämtlicher nicht-religiöser Belange der Normalzustand ist, mag dieser Bezug abwegig erscheinen. Es scheint, als würde die christliche Ideologie des Mittelalters pejorativ reduziert auf „eine dogmatisch fixierte Religion mit amtlichen Lehrentscheidungen und Polizeigewalt“. [3] Benedikt XVI. hatte bereits vor seiner Papstwahl als Kardinal Ratzinger Überlegungen zur Beziehung von Glaube und Vernunft angestellt. Im Dialog äußerte sich auch der namhafte Philosoph Jürgen Habermas zu Wort und erklärte, der Kantʼsche Republikanismus, den er zu verteidigen suche, stünde in der Tradition des Vernunftrechts und verzichte auf die Annahmen religiöser Naturrechtslehren. [4] Dadurch implizierte er zumindest teilweise eine Trennung von Vernunft und Religion. Dies ist jedoch keineswegs der letzte Stand einer kontinuierlichen Entwicklung. Vielmehr ist das Verhältnis von Glaube und Vernunft innerhalb der christlichen Theologie ständig von zentralem Interesse gewesen.

Schon die Heilige Schrift lehrt, dass der Mensch in der Lage sei, kraft seines Verstandes und seines Glaubens eine „untrügliche Kenntnis der Dinge“ zu erwerben. [5] Doch ist Gott hier der Ursprung allen Wissens [6] und nur dem Gottesfürchtigen wird es zuteil. [7] Auf solche Grundlagen stützten auch die Denker des Mittelalters immer wieder ihre Erkenntnisse. Beispielsweise Petrus Abaelard, als er erklärte, zur Auslegung der Heiligen Schrift bedürfe es nicht mehr als dieser selbst und vielleicht noch der Glosse [8] oder Bonaventura, der in letzter Konsequenz die Philosophie ganz klar der Heiligen Schrift unterordnete. [9] Thomas von Aquin soll, als er Bonaventura besuchte, nach dessen Bibliothek gefragt haben, woraufhin dieser nur einen Vorhang zur Seite gezogen habe, und dahinter lediglich der gekreuzigte Christus zu sehen gewesen sei. [10] Auch Bernhard von Clairvaux hatte eine ähnliche Sicht: „Das ist meine höchste, meine wesentlichste Philosophie: Jesus kennen, und zwar als Gekreuzigten.“ [11] Hier wird offensichtlich: Die Dominanz der christlichen Lehre setzte die Grenzen der christlich-mittelalterlichen Philosophie fest. Innerhalb dieser Grenzen waren Zweifel und verschiedene Auslegungen möglich ein schmaler Grat, wie z.B. Petrus Abaelard mehrfach erfahren musste, als er auf Betreiben seiner Gegner 1121 auf der Synode von Soissons sein Werk „Theologia summa boni“ selbst ins Feuer werfen musste und  1140 von Papst Innozenz II. zu ewigem Schweigen verurteilt wurde. [12] Doch selbst während seiner Klosterhaft (1140-1142) ordnete er die dogmatischen Schriften der Vernunft unter. [13]

Die mittelalterlichen Ansichten zum Verhältnis von Ratio und Religio entstanden nicht aus sich selbst heraus. Die philosophische Entwicklung der Antike war durch den Einfluss christlicher Vorstellungen und Dogmen einerseits ergänzt und beeinflusst, andererseits aber auch infrage gestellt worden. Augustinus Aurelius, in der Spätantike (354) geboren, genoss zunächst eine klassische Bildung mit den Schwerpunkten auf Grammatik und Rhetorik. [14] Er wandte sich dem Manichäismus zu, einer religionsphilosophischen Strömung, die ihre eigene Zeit für ein „Reich der Finsternis“ hielt. [15] Später brach er mit dem Manichäismus und wandte sich unter dem offensichtlich erheblichen Einfluss seiner Mutter Monnica dem Katholizismus zu. [16] Hier räumte Augustinus erstmals einem dogmatischen Glauben den Vorrang vor den philosophischen Lehren ein:

„Seit dieser Zeit gab ich bereits der katholischen Lehre den Vorzug und sah ein, daß hier weit bescheidener und ehrlicher für das, was nicht bewiesen ward, Glaube gefordert wurde – mochte es nun Beweise geben, […] oder mochte es auch keine geben , während man dort die Leichtgläubigkeit durch dreistes Versprechen wissenschaftlicher Erkenntnis zum besten hielt und hernach viel phantastisches und albernes Zeug, da man's nicht beweisen konnte, zu glauben befahl.“ [17]

Augustinus ging konsequent einen Schritt nach dem anderen. Er bekämpfte den Manichäismus als Irrlehre, wurde 396 Bischof von Hippo Regius [18] und widmete sich dem Kampf gegen die in Nordafrika weitverbreiteten donatistischen Christen. [19] Die Donatisten strebten vor allem eine Trennung von Staat und Kirche an. Dies stand Augustinus' Auffassung diametral entgegen:

„In diesem Werk […] möchte ich den ruhmreichen Gottesstaat verteidigen, ihn, der in dieser Weltzeit unter Gottlosen pilgert und im Glauben lebt […] Darum muß auch von dem herrschgierigen Weltstaat, dem die Völker dienen und der gleichwohl von seinem eigenen Herrschaftsgelüst beherrscht wird, die Rede sein.“ [20]

Seine aggressive Rhetorik spiegelte sich auch in Taten wider; in seinem Kampf gegen die Donatisten setzte er schließlich sogar die kaiserlich-römische Armee ein. [21] Als Augustinus 430 starb, hatte er die Grundlagen der mittelalterlichen Philosophie im Hinblick auf die christliche Dogmatik umrissen. Er beschrieb die Welt als „zeitloses Symbol, ein geheimnisvoller Kriegsschauplatz zwischen Heiland und Satan, zwischen den Erwählten und den Verdammten“ [22], und schuf die Grundlage für die Sinnsuche im Jenseits, [23] gleichsam ein diesseitiges Leben vom Jenseits her. Er wurde zu der großen, christlichen Autorität des Früh- und Hochmittelalters, die erst im 13. Jahrhundert durch die sich immer mehr beschleunigenden Entwicklungen in der Scholastik ein wenig in den Hintergrund gedrängt wurde. [24]

Leben und Wirken der christlichen Denker beeinflussten einander oftmals in überraschend vielfältiger und häufig ungewollter Art und Weise. Anselm von Canterbury kam 1059 wegen seines weltlichen Studiums in das Benediktiner­kloster Bec in der Normandie, um bei dem bedeutenden Lehrer Lanfranc die „artes liberales“, also die sieben freien Künste, zu studieren. [25] Anselm erwies sich als äußerst talentiert, doch auch selbstkritisch. Als er befürchtete, zu einem Lehrer zu werden, der nur aus eitlen Motiven das Trivium zum Selbstzweck betreibt, stürzte er in eine Sinnkrise, an deren Ende und als deren Lösung er schließlich ins Kloster Bec eintrat und Mönch wurde. [26] Doch auch in dieser Position war seine Begabung von Vorteil. 1063, also vier Jahre nach seiner Ankunft in Bec und 3 Jahre nach seinem Gelübde, wurde er bereits zum Prior ernannt, [27] weitere 13 Jahre später zum Abt. [28]

Anselms Beiträge zur christlich-mittelalterlichen Philosophie sind bemerkenswert und so wegweisend, dass er oftmals als „Vater der Scholastik“ bezeichnet wird. [29] Untrennbar verbunden ist sein Name jedoch mit dem ontologischen Gottesbeweis. Bedarf der Glaube an Gott überhaupt eines solchen Beweises? Selbst für Anselm scheint der Beweis Gottes nicht notwendig zu sein, stellt er doch die Existenz Gottes nie infrage, sondern nutzt die Beweisführung um den menschlichen Verstand anzuregen, sich eingehend und vernünftig mit Gott zu befassen. [30] Daraus folgend ist der Beweis teleologisch und rekursiv. Gott ist die Ursache allen Seins, folglich gibt es kein 'vor' oder 'über' Gott: „Und zwar glauben wir, dass Du etwas bist, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.“ [31] Der Beweis selbst verläuft in drei Schritten: ausgehend von der Annahme, dass ein „Tor in seinem Herzen gesprochen hat: es ist kein Gott“ [32], antwortet Anselm, dass der Tor die Prämisse etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, mit dem Verstand aufnimmt, aber nicht als existierend erkennt. Doch kann es nicht nur im Verstand sein, weil es auch in der Wirklichkeit gedacht werden kann, und somit größer ist; damit gäbe es jedoch etwas das größer ist, als das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann – ein Widerspruch in sich. Daraus schließt Anselm, dass etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, existieren muss, und zwar so absolut, dass dessen Nichtexistenz undenkbar ist:

„Ja, das ist schlechterdings so wahrhaft, dass auch nicht einmal gedacht werden kann, es sei nicht. Denn man kann denken, dass etwas sei, von dem man denken kann, es sei nicht; das jedoch ist größer als dasjenige, von dem man denken kann, es sei nicht. Wenn man deshalb von dem, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, denken kann, es sei nicht, dann ist das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann; das aber kann nicht zusammenstimmen. So also ist wahrhaft etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, derart, dass man nicht einmal denken kann, es sei nicht. Und das bist Du, Herr, unser Gott.“ [33]

Problematisch an diesem Argumentationsgang ist, dass die Behauptung, Gott sei etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, als gültig vorausgesetzt wird, ohne dass dies an irgendeiner Stelle der Argumentation bewiesen wird. Dieser Umstand wurde in der Folgezeit immer wieder kritisiert, [34] schon bald nach Erscheinen von Anselms Schrift durch einen Mönch namens Gaunilo. [35] Es spricht für die akademische Ernsthaftigkeit Anselms, dass er, als Prior eines berühmten Klosters und Leiter der Klosterschule, auf die Einwände eines, sicherlich auch zu seiner Zeit, relativ unbekannten Mönchs so ausführlich antwortete.

Anselms Anspruch, mittels des eigenen Verstandes und durch eine streng logische Vorgehensweise den endgültigen Beweis der Existenz Gottes zu erbringen, nicht, weil er selbst Zweifel gehabt hätte, sondern einfach um der Liebe zur Vernunft willen, ist bemerkenswert. Das offenbart sich in dem sicherlich bekanntesten Satz Anselms: „Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam.“ [36] Zwar wurde dieser Satz später von Petrus Abaelard implizit scharf angegriffen, als dieser schrieb „man könne erst etwas glauben, wenn man es zuvor begriffen“ [37] habe, doch blieb Anselms Grundsatz für die Scholastik bestimmend, wenn er selbst das wohl auch nicht so vorhergesehen hatte. In seinem Werk „Cur deus homo“ wird, erneut unter der Bedingung, dass man zunächst im christlichen Glauben gefestigt sein müsse, bevor man versuchen solle, den Glauben vernunftgemäß zu erfassen, die Frage gestellt, warum „Gott, der doch allmächtig ist, die Niedrigkeit und Schwachheit der menschlichen Natur zu ihrer Widerherstellung angenommen hat“. [38] Anselm antwortet darauf, dass sein Verstand nicht ausreiche, eine derartige Frage zu beantworten. Denn er wolle nicht dass jemand glaubt „es fehle mir an der sachlichen Wahrheit“. [39] Anselm führt langsam aber stetig auf den Kern des Werks hin: dass es nämlich um die Grundfragen des Glaubens geht, [40] ein Bereich der sich dem Verstand des Menschen entziehen mag, was jedoch den Glauben nicht beeinträchtigt, denn „der Wille Gottes ist niemals unvernünftig“ [41] – die vollendete Verschmelzung von Glaube und Vernunft.

Außerhalb seiner Funktion als Denker wurde Anselm gefordert, als ihn der schwer kranke Wilhelm II., König von England, als Erzbischof von Canterbury einsetzen wollte. [42] Er lehnte entschieden ab, wurde aber schließlich mehr oder weniger zur Übernahme des Amtes gezwungen. [43] So widerstrebend er das Amt angetreten hatte, so konsequent setzte er sich als Primas von England für die Belange der Kirche ein. Der Streit mit dem englischen Thron und seine klare Parteinahme für die päpstliche Seite brachten Anselm zeitweilig so sehr in Bedrängnis, dass er zweimal ins Exil gehen musste. [44] Diese Konsequenz passt zum Lebensentwurf Anselms, schreibt doch die für ihn als Benediktinermönch maßgebliche „Regula benedicti“ eindeutig vor: „Wegen des heiligen Dienstes, den sie gelobt haben, […] darf es für sie nach einem Befehl des Oberen kein Zögern geben, sondern sie erfüllen den Auftrag sofort, als käme er von Gott.“ [45] Für einen Mann wie Anselm konnte die erwähnte irdische Autorität aber nur eine kirchliche sein. Er war ein Philosoph, der kaum Interesse an den weltlichen Streitigkeiten gehabt haben dürfte, die sein tägliches Leben als Primas von England beherrschten. [46] Darüber hinaus war sein Wirken ohnehin auf ein anderes Ziel ausgerichtet: Nächstenliebe in praktischer Anwendung weiterzugeben, und eine gerechte Ordnung herbeizuführen. Eine Episode berichtet davon, wie Anselm einen Hasen rettete, indem er das Leid der gejagten und verängstigten Kreatur auf die menschliche Seele allegorisierte. [47] Seine Art zu Handeln, als Prior und Abt von Bec, war dergestalt, dass er sich allgemein äußerster Beliebtheit erfreute. [48] Beeindruckend stellt sich der räumliche Werdegang Anselms dar:

„Die allermeisten Menschen Europas lebten damals in Dörfern, gebunden in den Schranken, die Natur und Verkehrsarmut und Bildungslosigkeit auferlegten. […] Während der einfache Mann nie aus seiner engsten Heimat herauskam und keinen Blick in die Weite kannte, schufen die Mönchsorden ein über Länder hinweg gelenktes, ungemein bewegtes Leben. Ein Mann wie Anselm konnte in Italien geboren, in Frankreich Mönch, in England Erzbischof von Canterbury werden.“ [49]

Insgesamt darf Anselm von Canterbury als herausragendes Beispiel eines christ­lich-mittelalterlichen Denkers angesehen werden, eine „europäische Figur“ [50], ein Mann, für den das Verhältnis von Glaube und Vernunft sein ganzes Leben lang bestimmend war, oder vielmehr der Beweis, dass die beiden Dinge untrennbar verbunden sind.

Die Entwicklung der christlich-mittelalterlichen Philosophie beschleunigte sich durch Denker, die auch die Werke ihrer Vorgänger kritisch hinterfragten. Dies betraf nicht nur die Schriften der christlichen, sondern auch die der antiken Autoren. [51] Augustinus zählt mit seinen Schriften zu den Neuplatonikern. [52] Diese Strömung der Philosophie blieb relativ unangefochten, bis im 12. Jahrhundert die „Wiederentdeckung“ der aristotelischen Schriften einen Paradigmenwechsel auslöste, der die bisherige Denkweise erweiterte, anstatt sie zu ersetzen. [53] Albert der Große, Leiter des „studium generale et solemne“ in Köln, [54] hatte ab der Mitte des 13. Jahrhunderts daran gearbeitet, alle Werke Aristoteles' zu erschließen. [55] Albert, wegen seines umfassenden Wissens auch „doctor universalis“ genannt, [56] äußerte sich zu dem Bestreben, christliche Theologie in Philosophie zu übersetzen, ablehnend. Er glaubte dies würde beide Themenfelder schädigen. Nach Albert gründet sich die Theologie auf Offenbarung und Inspiration, während die Philosophie der Vernunft entspringt. [57] Thomas von Aquin hingegen, den sein Lehrer Albert als überaus talentiert bezeichnete, [58] nutzte sein Wissen der aristotelischen Philosophie, um diese mit den christlichen Glaubensfragen zu verknüpfen. Hatte Albert noch hinsichtlich seiner empirischen Naturforschungen mit den Anfeindungen seiner dominikanischen Ordensbrüder zu kämpfen gehabt, so versuchte Thomas, christliche Vorstellungen rational zu beweisen, indem er auf die erfahrbare Wirklichkeit rückschloss [59]:

„Ähnlich richtet sich auch die Wahrheit, die in der Seele von den Dingen verursacht ist, nicht nach der Einschätzung durch die Seele, sondern nach dem Wirklichsein der Dinge.“ [60]

Das Verhältnis von ratio und religio war einem ständigen Wechsel von Interpretationen unterworfen, nicht nur im Mittelalter, sondern während der gesamten Geschichte des Christentums. Als ausschlaggebend für die Vielzahl unterschiedlicher Deutungen können viele Faktoren angenommen werden. Sei es, dass die Denker einerseits mit dem Verstand zu erfassen suchten, was der Glaube befahl, um Gewissheit zu erlangen, also gleichsam den Glauben logisch zu untermauern. Ein weiterer Grund mag gewesen sein, den christlichen Glauben im Diskurs mit Andersgläubigen beweisen und seine Überlegenheit begründen zu können. Denn die Suche nach dem Glauben ist auch immer die Suche nach der Wahrheit. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zum eingangs erwähnten Papst Benedikt XVI. Dieser stellte fest:

Denn bei aller Freude über die neuen Möglichkeiten des Menschen sehen wir auch die Bedrohungen, die aus diesen Möglichkeiten aufsteigen, und müssen uns fragen, wie wir ihrer Herr werden können. Wir können es nur, wenn Vernunft und Glaube auf neue Weise zueinanderfinden; wenn wir die selbstverfügte Beschränkung der Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare überwinden und der Vernunft ihre ganze Weite wieder eröffnen. In diesem Sinn gehört Theologie, als Frage nach der Vernunft des Glaubens an die Universität und in ihren weiten Dialog der Wissenschaften hinein.“ [61]

Offensichtlich hat das Spannungsfeld von ratio und religio nichts von seiner Aktualität verloren.

Durchges. Zweitpubl. v. Matthias Mühe: Ratio und Religio. Zum Verhältnis von Vernunft und Glaube in der christlich-mittelalterlichen Philosophie, in: PerspektivRäume. Historische Zeitschrift aus Studentischer Hand Jg. 2 (2011) Heft 1, S. 61-70, http://www.perspektivraeume.uni-hannover.de/index.php?id=ratio-und-religio.

Anmerkungen

  • [1]

    Benedikt XVI.: Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen, in: Ders.: Glaube und Vernunft. Freiburg i. Br. u.a. 2006, S. 13, epub. unter http://epub.uni-regensburg.de/406.

  • [2]

    Benedikt XVI. erklärt zu o.g. Satz in einer Fußnote: „Einzig um dieses Gedankens willen habe ich den zwischen Manuel und seinem persischen Gesprächspartner geführten Dialog zitiert. Er gibt das Thema der folgenden Überlegungen vor.“ Vgl. Benedikt XVI., Glaube, S. 16. 

  • [3]

    Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. 2., rev. u. erw. Aufl. Stuttgart 2000, ND 2006, S. 141. 

  • [4]

    Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung, mit einem Vorw. hrsg. v. Florian Schuller. Freiburg i. Br. u.a. 72007, S. 18.

  • [5]

    Weish 7, 17-21. 

  • [6]

    Sir 1, 1, 9f. 

  • [7]

    Sir 1, 14-20. 

  • [8]

    Petrus Abaelard: Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, hrsg. v. Eberhard Brost. Darmstadt 2004, S. 15. Gemeint ist hier die glossa ordinaria, die so wird bislang angenommen von dem Mönch Walafried Strabo im 9. Jh. begonnen und ständig erweitert wurde. Vgl. Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 42009, S. 177f.

  • [9]

    „Wer also lernen will, möge das Wissen an der Quelle suchen, nämlich in der Heiligen Schrift, da es bei den Philosophen kein Wissen gibt zur Vergebung der Sünden; auch nicht bei den Summen der Lehrer, da diese aus den Originaltexten geschöpft haben, die Originaltexte aber aus der Heiligen Schrift.“ Bonaventura: Hexaemeron, 19, 7, zitiert nach: Henning Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. München 1994, S. 222. Bonaventura leitete außerdem die menschliche Erkenntnisfähigkeit auf eine mystische Theorie des Lichts zurück, dessen Ursprung im „Vater der Lichter“ (Jak, 1, 17) liegt, und auf den letztlich jede Erkenntnis zurückzuführen ist. Bonaventura: Pilgerbuch der Seele zu Gott. Zurückführung der Künste auf die Theologie, eingel., übers. u. erl. v. Julian Kaup. München 1961, S. 235. 

  • [10]

    Thorsten Paprotny: Kurze Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. Freiburg i. Br. u.a. 2007, S. 139. 

  • [11]

    Bernhard von Clairvaux: Rückkehr zu Gott, hrsg., eingel. u. übers. v. Bernardin Schallenberger. Düsseldorf 2001, S. 157. 

  • [12]

    Rolf Peppermüller: Abaelardus, Petrus. I. Leben und Wirken, in: LexMA 1 (1980), Sp. 7-10. 

  • [13]

    „Denn gerade jene, die allein aus ihrer Vernunft heraus geschrieben haben, von der ihre Sätze überzuquellen scheinen, haben ihre Autorität, d.h. ihren Wert verdient, daß man ihnen unverzüglich glaube. So weit aber wird auch nach deren Urteil die Vernunft der Autorität vorgezogen, wie auch euer Antonius erwähnt: Da die Einsichten der menschlichen Vernunft der Erfinder der Schriften gewesen ist, sollen für den, der unversehrte Einsicht besitzt, Schriften keinesfalls notwendig sein.‘“ Petrus Abaelard: Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, übers. u. hrsg. v. Hans-Wolfgang Krautz. Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 105.

  • [14]

    Hans-Joachim Oesterle: Augustinus, hl. Kirchenlehrer, lat. Kirchenvater. I. Leben, in: LexMA 1 (1980), Sp. 1223-1225, hier S. 1223. 

  • [15]

    Flasch: Denken, S. 40f. 

  • [16]

    „Schon war meine Mutter zu mir gekommen, stark in ihrem frommen Glauben. Über Land und Meer war sie mir gefolgt, […] Aber als ich ihr mitteilte, ich sei nun kein Manichäer mehr, wenn auch noch kein katholischer Christ, […] gab sie mir ganz sanft, aber voller Zuversicht zur Antwort, sie glaube in Christo, mich noch, ehe sie aus dem Leben abscheide, als gläubigen Katholiken zu sehen.“ Augustinus: Bekenntnisse. München 2003, S. 135f. 

  • [17]

    Augustinus: Bekenntnisse, S. 141f. 

  • [18]

    Oesterle: Augustinus, Sp. 1224. 

  • [19]

    Flasch: Denken, S. 43. 

  • [20]

    Augustinus: Vom Gottesstaat. Buch 1-10. München 31991. S. 3f.

  • [21]

    Flasch: Denken, S. 43. 

  • [22]

    Otto Borst: Alltagsleben im Mittelalter. Frankfurt a. M. 1983, S. 565.  

  • [23]

    Flasch: Denken, S. 53. 

  • [24]

    Michael Schmaus:  Augustinus, hl. Kirchenlehrer, lat. Kirchenvater. III. Fortwirken im Mittelalter, in: LexMA 1 (1980), Sp. 1227-1229, hier Sp. 1227.

  • [25]

    Hansjürgen Verweyen: Anselm von Canterbury. Regensburg 2009, S. 23. 

  • [26]

    R. W. Southern: Saint Anselm. Cambridge 62004, S. 31.

  • [27]

    Verweyen: Anselm, S. 28.  

  • [28]

    Ebd., S. 32. 

  • [29]

    Die Bezeichnung geht auf Martin Grabmann zurück, der sie in seinem 1909 erschienenen Werk „Geschichte der scholastischen Methode“ gebrauchte: „Derjenige, der unter der Devise: 'Fides quaerens intellectum' [„der nach Einsicht suchende Glaube“ – Anm. d. Verf.] das Rittertum des Geistes, d.h. das männlich ernste und kühne, von der Begeisterung des kindlichen Glaubens getragene und von der zartesten Liebe beseelte Ringen nach dem Vollbesitz der christlichen Wahrheit eröffnete, war Anselm von Canterbury, der wahre und eigentliche Vater der Scholastik.“ Vgl. Martin Grabmann: Die scholastische Methode von ihren ersten Anfängen der Väterliteratur bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts. Darmstadt 1961, S. 259. Der Anspruch ist jedoch immer wieder bestritten worden. Vgl. Rolf Schönberger: Anselm von Canterbury. München 2004, S. 19f. 

  • [30]

    „Wohlan denn, armer Mensch, entfliehe ein wenig deinen Beschäftigungen […] Sei ein wenig frei für Gott und ruhe eine Weile in ihm. Tritt ein in das Kämmerlein deines Geistes, schließe alles aus, außer Gott und dem, was dir hilft, ihn zu suchen, […] und suche ihn. Sprich nun, mein ganzes Herz, sprich nun zu Gott: Ich suche Dein Antlitz, Herr, Dein Antlitz suche ich.“ Anselm von Canterbury: Proslogion. Stuttgart 2005, S. 15. 

  • [31]

    Ebd., S. 21-23. 

  • [32]

    Ebd., S. 23. 

  • [33]

    Ebd., S. 25. 

  • [34]

    Besonders deutlich wird die Schwäche von Anselms Gottesbeweis bei Kant: „Wenn ich also ein Ding, durch welche und wie viel Prädikate ich will (selbst in der durchgängigen Bestimmung), denke, so kommt dadurch, daß ich noch hinzusetze, dieses Ding ist, nicht das Mindeste zu dem Dinge hinzu. […] Unser Begriff von einem Gegenstande mag also enthalten, was und wie viel er wolle, so müssen wir doch aus ihm herausgehen, um diesem die Existenz zu erteilen.“ Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2. Wiesbaden 1956, S. 534f. 

  • [35]

    Gaunilo wird heute für einen Adeligen gehalten, der 1040 in das Benediktinerkloster Marmoutiers bei Tours eintrat. Schönberger: Anselm, S. 85. 

  • [36]

    „Ich suche ja auch nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern glaube, um zu verstehen.“ Anselm:  Proslogion, S. 21.

  • [37]

    Abaelard: Leidensgeschichte, S. 35. 

  • [38]

    Anselm: Cur deus homo. Warum Gott Mensch geworden, bes. u. übers. v. Franciscus Salesius Schmitt. Darmstadt 31970, Buch I, Kap. 1, hier S. 13. Fragesteller ist der Mönch Boso, der nach Bec gekommen war, um bei Anselm zu studieren. Boso wurde später (1124-1136) selbst Abt von Bec. Vgl. Ebd., S. IX.

  • [39]

    Anselm: Cur deus homo, Buch I, Kap. 1, hier S. 13. 

  • [40]

    Verweyen: Anselm, S. 110. 

  • [41]

    Anselm: Cur deus homo, Buch I, Kap. 8, hier S. 25. 

  • [42]

    Verweyen: Anselm, S. 140. 

  • [43]

    Angeblich zerrte man ihn an das Krankenbett des Königs, öffnete mit Gewalt seine geballten Fäuste und legte ihm den Bischofsstab in die Hand und weihte ihn. Er hielt eine pessimistische Rede und beschwerte sich später beim Papst in einem Brief wegen der gewaltsamen Art, mit der man ihn ins Amt gezwungen habe, und welchen Protest er dagegen erhoben habe, vor allem wegen seiner mangelnden Sachkenntnis. Verweyen: Anselm, S. 140f. 

  • [44]

    Günther Binding: Anselm v. Canterbury. I. Leben und Wirken, in: LexMA 1 (1980), Sp. 680f., hier Sp. 680. 

  • [45]

    Benedikt von Nursia: Die Benediktusregel. Beuron 1992. S. 95. 

  • [46]

    Southern: Anselm, S. 229. 

  • [47]

    Eadmer: The life of St. Anselm. Archbishop of Canterbury, hrsg. v. R. W. Southern. Oxford 1979, S. 90. 

  • [48]

    Sally N. Vaughn: Anselm of Bec and Robert of Meulan. Berkeley 1987, S. 74. 

  • [49]

    Karl Jaspers: Die großen Philosophen, Teil 1. München 1989, S. 116. Ob man Anselms Reisen in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Angehörigkeit zu einem Mönchsorden sehen sollte oder doch eher seinem eigenen Wissensdurst und später seiner Persönlichkeit zuschreiben sollte, sei hier hintangestellt.  

  • [50]

    Schönberger: Anselm, S. 11. 

  • [51]

    Während fast des gesamten Mittelalters fand ein mehr oder weniger reger Ideenaustausch mit den islamischen Philosophen statt. Der Umfang dieser Beziehungen und ihre Wechselwirkung ist jedoch zu umfangreich, um im Rahmen dieser Arbeit betrachtet zu werden, daher sollen sie völlig ausser Acht gelassen werden. Lediglich der Umstand, dass auch die Verbreitung der antiken, aristotelischen Schriften im 13. Jahrhundert auf deren Rezeption im islamischen Raum zurückzuführen ist, soll hier erwähnt werden. Flasch: Denken, S. 319ff. 

  • [52]

    Ebd., S. 38f. 

  • [53]

    Ebd., S. 363ff. 

  • [54]

    Albertus Magnus. I. Leben, in: LexMA 1 (1980), Sp. 294f. Der Terminus „studium generale et solemne“ ist bislang nicht eindeutig geklärt; „studium generale“ bezieht sich auf das allgemeine Studium und ist eher im Sinne der Allgemeinbildung zu verstehen. Der Begriff „studium solemne“ wird als Partikularstudium verstanden, der sich aus der Form des Studienbetriebs [solemnis (lat.) = feierlich] ableitet. Vgl. Dieter Berg: Armut und Wissenschaft. Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jahrhundert. Düsseldorf 1977, S. 63f. 

  • [55]

    Flasch: Denken, S. 370.  

  • [56]

    Paprotny: Philosophie, S. 111. 

  • [57]

    Flasch: Denken, S. 373. 

  • [58]

    Thomas soll beleibt und schweigsam gewesen sein, weshalb seine Mitschüler ihn als „stummen Ochsen“ verspotteten. Albert der Große soll darauf erwidert haben: „[...] ich aber sage euch, das Brüllen dieses stummen Ochsen wird so laut werden, dass es die ganze Welt erfüllt.“ Vgl. Paprotny:  Philosophie, S. 118.

  • [59]

    Flasch: Denken, S. 353f. 

  • [60]

    Thomas von Aquin: Von der Wahrheit. Lateinisch – Deutsch, ausgew., übers. u. hrsg. v. Albert Zimmermann. Hamburg 1986, S. 19. 

  • [61]

    Benedikt XVI.: Glaube, S. 29f. 

Empfohlene Zitierweise

Mühe, Matthias: Ratio und Religio. Zum Verhältnis von Vernunft und Glaube in der christlich-mittelalterlichen Philosophie. aventinus varia Nr. 38 [31.01.2013], in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9767/

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Erstellt: 31.01.2013

Zuletzt geändert: 24.02.2013

ISSN 2194-1971

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