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aventinus recensio Nr. 40 [30.11.2013] / Skriptum 2 (2012) Nr. 2 — Unveränd. Nachdruck 

Tobias Jakobi 

Tobias Brinkmann: Migration und Transnationalität (= Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte Bd. 3), Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag 2012. 192 Seiten. 16,90 €. ISBN 978-3-506-77164-3. 

 

‹1› Tobias Brinkmann, Associate Professor of Jewish Studies and History an der Universität von Pennsylvania, legt mit seiner Monographie „Migration und Transnationalität“ eine Studie über die transnationale Verflechtung der jüdischen Diaspora von 1800 bis heute vor, welche in der siebenbändigen Reihe „Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte“ des Schöningh-Verlages erschienen ist. Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt, dem wissenschaftlichen Apparat schließen sich ein Personen- und ein Ortsregister an. 

‹2› Im ersten Kapitel, „Deutsche Juden transnational“, zeigt B. bereits mehrere Forschungslücken in der Erforschung der jüdischen Migration auf, besonders die Bewegungen vor 1880. Ebenso unterstreicht er die Bedeutung der Netzwerke für die Migration − eine Perspektive, welche das gesamte Buch hindurch immer wieder gezeigt wird. Das zweite Kapitel behandelt die deutschen Juden – wobei Brinkmann deutlich klar macht, dass besonders für die Zeit vor 1871 der Begriff „deutsch“ in vielerlei Hinsicht gebraucht wurde und sowohl geographische, sprachliche und kulturelle Konnotationen hatte. Dies äußerte sich seiner Meinung nach über die Netzwerke jüdischer Gelehrter und Theologen, familiärer Verbindungen und durch Zeitungen, welche vor allen in den USA erschienen. Interessant ist hier besonders die Rekonstruktion des Kontrast zwischen den deutschsprechenden, meist bürgerlichen „German Jews“ [1] und den oftmals jiddisch sprechenden „Russians“ [2] oder „Ostjuden“ [3]. Brinkmann führt hier aus, dass die „German Jews“ sich oft von den „Ostjuden“ distanzierten, da sie diese als theologisch „rückständig“ [4] ansahen. Diese auf Vorurteilen basierende Abgrenzung wurde aber, so B., von Teilen der „German Jews“ ebenso engagiert in Frage gestellt. Das dritte Kapitel, „Deutsche und andere Juden“ behandelt die ostjüdische Migration, welche ab etwa 1880 stark anzog. Ziele der Migration waren mitteleuropäische Städte wie Prag, Budapest und Warschau und die Vereinigten Staaten. Brinkmann identifiziert Deutschland hierbei vor allem als Durchgangsland der ostjüdischen Migration. Weiterhin stützt dieses Kapitel seine These, dass transnationale Migration auch die Analyse von Netzwerken bedeutet, mittels derer sich Menschen gegenseitig bei der Wanderung halfen. Ein Beispiel waren die Hilfsvereine, die in Not geratenen Migranten finanzielle Unterstützung gewährten und jungen Auswanderern eine Ausbildung, ein Studium oder eine Unternehmensgründung ermöglichten. Diese transnationalen Netzwerke sind ebenso für das Wachsen der zionistischen Bewegungen von integraler Bedeutung.

‹3› Die nächsten drei Kapitel sind stärker als die vorherigen drei an allgemeine Periodengrenzen ausgerichtet: Das vierte Kapitel „Wendepunkt und Umbruch“ behandelt die Thematik im Zeitraum vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zur nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘, das fünfte „Emigration, Flucht und Deportation“ erstreckt sich über die zwölfjährige Herrschaft der NSDAP, während das abschließende Kapitel „Gepackte Koffer und neue Zuwanderer“ die Nachkriegszeit bis heute bespricht. Im vierten Kapitel werden die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges geschildert: Der Zusammenbruch der transnationalen Beziehungen der jüdischen Migranten und der anschließend wachsende Antisemitismus unterscheidet diese Zeit eindeutig von der Erfahrung im ‚langen 19. Jahrhundert‘. Der Zionismus ist eine neue Form des transnationalen Austausches – mit dem Ziel eines jüdischen Nationalstaates. Der Transit von Menschen jüdischen Glaubens fand in dieser Zeit laut Brinkmann in Berlin sein neues Zentrum. Im fünften Kapitel wird nicht nur die jüdische „Emigration und Flucht“ [5] nach der nationalsozialistischen Machtübernahme geschildert, sondern auch die strengen Einwanderungsgesetze, die sich bspw. in den Vereinigten Staaten etablierten und die Flucht vor dem NS-Regime erschwerten. Auch hier halfen die Netzwerke, welche oftmals auch finanzielle Stützen für die Migranten darstellten. Da potentiellen Einwanderern aufgrund der LPC-Klausel („Likely to become a public charge“) des US-amerikanischen Einwanderungsgesetzes oftmals ein Visum verweigert wurde, bürgten oftmals bereits migrierte Bekannte mit ihrem Vermögen. Dies änderte sich wenig nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, jedoch wurden die Bedingungen verständlicherweise extrem erschwert. Die Beschreibung der Deportation und massenhafte Ermordung der in Europa lebenden Juden schließt dieses Kapitel. Im sechsten und letzten Kapitel werden die Migrationserlebnisse der jüdischen Displaced Persons und der Aufbau des israelischen Staates, dessen Bevölkerung zu einem bedeutenden Teil aus neuen und alten Migranten bestand, geschildert. Ebenso Teil der Nachkriegsgeschichte waren die Beziehungen der beiden deutschen Staaten mit Israel sowie die Prozesse gegen die Verbrecher des Holocausts. Abschließend bespricht der Autor die jüdische Emigration aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Jüdische Migranten aus der zerfallenden Sowjetunion galten aufgrund der Furcht vor rechtsextremistischen Pogromen in Deutschland als „Kontingentflüchtlinge“ [6], um ihnen so nach dem deutschen Asylrecht einen unbegrenzten Aufenthalt zu ermöglichen, ohne als „Einwanderungsland“ [7] zu gelten. Deutschland „wollte und konnte die jüdischen Einwanderer“ [8] nicht nach Israel abschieben, welches die aus der Sowjetunion auswandernden Juden so vollständig wie möglich aufnehmen wollte, Die Einwanderer wurden somit, so Brinkmann, als Flüchtlinge und Asylbewerber angesehen, um „eine Provokation Israels“ [9] durch die Aufnahme von jüdischen Migranten zu vermeiden.

‹4› Insgesamt ist die Monographie sowohl stilistisch als auch thematisch eine interessante Lektüre. Brinkmann wechselt zwischen kurzen Einzelbiographien (wie dem ersten Präsidenten Israels, Chaim Weizmann) und Makroperspektiven und verbindet diese argumentativ und in der Darstellung in anregender Weise. Stets hebt er die Bedeutung der transnationalen Netzwerke hervor, welche die Migration sowohl hervorrief als auch benötigte. Die Migranten werden nicht als homogene Gruppe behandelt, sondern durch die Darstellung der internen Aufteilung in deutsche und osteuropäische Juden differenzierter dargestellt. Durch die immer wieder vorkommenden Anmerkungen, wo noch Forschungslücken bestehen, eignet sich die Publikation hervorragend, um Themen für Seminar- oder Abschlussarbeiten zu finden und kann dabei ebenso als methodische Vorlage dienen. 

Tobias Jakobi ist Student der Geschichte und der Anglistik an der Universität Trier im Studiengang Bachelor of Education. 

 

Lizenz für den Text und die Anmerkungen: Creative Commons Namensnennung-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland (CC BY-ND 3.0)


Unveränd. Zweitpubl. v. Tobias Jakobi: Tobias Brinkmann: Migration und Transnationalität, in: Skriptum. studentische onlinezeitschrift für geschichte und geschichtsdidaktik Ausg. 2/2012, URN:
urn:nbn:de:0289-2012110278

Anmerkungen

  • [1]

    Brinkmann, Tobias: Migration und Transnationalität. Paderborn 2012 (= Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte Bd. 3), S. 47. 

  • [2]

    Brinkmann, S. 50. 

  • [3]

    Brinkmann, S. 48. 

  • [4]

    Brinkmann, S. 50. 

  • [5]

    Brinkmann, S. 123. 

  • [6]

    Brinkmann, S. 178. 

  • [7]

    Brinkmann, S. 178. 

  • [8]

    Brinkmann, S. 178. 

  • [9]

    Brinkmann, S. 179. 

Empfohlene Zitierweise

Jakobi, Tobias: Rezension Tobias Brinkmann: Migration und Transnationalität (=Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte Bd. 3), Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag 2012. 192 Seiten. 16,90 €. ISBN 978-3-506-77164-3.. aventinus recensio Nr. 40 [30.11.2013] / Skriptum 2 (2012) Nr. 2, in: aventinus, URL: https://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9836/

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Erstellt: 03.12.2013

Zuletzt geändert: 03.12.2013

ISSN 2194-2137

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