Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress (1789-1815)

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aventinus nova Nr. 50 [30.11.2014] 

Magdalena Pistorius 

Von Zwieback und Spanferkeln – ein Essay zur Lebensmittelversorgung auf See im späten 18. Jahrhundert 

Basierend auf den Memoiren des französischen Marineoffiziers Jean-Jacques de Cotignon 

Es ist doch nicht zu fassen: Neun Jahre auf hoher See hat der junge französische Marineoffizier Jean-Jacques de Cotignon im Jahre 1790 hinter sich, er hat Krieg und Krankheiten, Stürme und Feuer, Tigerjagden und unzählige Duelle überlebt. Zuletzt entrinnt der königstreue Adlige in seiner Heimat dem sicheren Tod: In den Wirren der französischen Revolution schifft er sich bei Nacht und Nebel ein, um in letzter Sekunde seinen bürgerlichen Häschern zu entrinnen. Sämtliche Gefahren hat der Franzose bis dahin großmütig hingenommen. Doch nun, auf der Flucht von Brest ins südfranzösische Blaye, plagt ihn eine ungleich größere Sorge: Der Appetit. Sage und schreibe fünf Tage dauert die Schiffsreise, kein Vergleich zu den mehrjährigen Kampagnen, die Cotignon schon bis nach Amerika und ins entfernte Indien geführt haben. Doch statt mit frischem Fleisch und Gemüse muss sich der junge Adelsmann während dieser kurzen Überfahrt mit Schiffszwieback und Gepökeltem begnügen – was für eine Plage! 

Freilich, räumt Cotignon ein, lebe er lieber schlecht als gar nicht. Auch spielt das Essen in seinen Memoiren im Grunde keine hervorgehobene Rolle, im Gegenteil. Der Franzose beschreibt seine Dienstjahre vom Eintritt in die königliche Marine bis zum Ausbruch der Revolution, liefert Einblicke in historische, geographische und gesellschaftliche Ansichten seiner Zeit, schildert das eintönige Leben auf See und das vergnüglichere im Hafen und notiert minutiös die zeitlichen Abläufe an Bord. Immer wieder taucht dabei auch das leibliche Wohl auf. Zwar oft nur nebenbei erwähnt, wirft es in der Gesamtheit von Cotignons Werk aber durchaus Licht auf die Versorgung von Seeleuten gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Mannschaften von mehreren hundert Mann, die über Monate auf den Weltmeeren unterwegs sind: Wie funktioniert die Ernährung einer solchen Besatzung? 

Verantwortlich für den reibungslosen Ablauf einer Schiffsbeladung ist in erster Linie der Kapitän. Die täglichen Pro-Kopf-Rationen gibt die Marineverordnung vor – Überblick über die Vorräte muss aber der Kapitän bewahren. Auch die Qualität der Lebensmittel unterliegt seiner Aufsicht. Ein gutes Kalkül des Kapitäns ist für dessen Mannschaft überlebenswichtig: Vor jeder Fahrt plant er die nötigen Essens- und Wassermengen für die voraussichtliche Zeit auf See ein. Wie gefährlich Verschätzungen sind, muss Cotignon am eigenem Leib erfahren. Ein junger Kapitän hatte für eine kurze Fahrt Lebensmittel für knapp fünf Tage eingeplant, bei gutem Wind hatte er die vorgegebene Strecke in zwei Tagen zurückgelegt. Schlechter Wind und schlechte Betakelung lassen sie nun mehr als eine Woche dauern. Cotignons Furcht, innerhalb von rund zehn Tagen zu verhungern, dürfte übertrieben sein – sein Unmut bei unzureichender Verköstigung zeigt sich ja des Öfteren. Tatsächlich fatal wäre für ihn jedoch in Kürze der an Bord herrschende Wassermangel: Ohne Essen lässt es sich eine Weile leben, mit nur einem halben Glas Wasser am Tag nicht. Um zu gewährleisten, dass die errechneten Mengen an Vorräten auch tatsächlich ausreichen, bedarf es der Kapitäne aber nicht nur guter Seekenntnis und Rechenfertigkeit. Ihnen obliegt auch die Kontrolle über das Konsumverhalten der Mannschaft: Tägliche Rationen gibt die königliche Verwaltung vor, für übermäßigen Verzehr während einer Reise hat der Kapitän besser eine gute Rechtfertigung parat. Problematisch sind Verzögerungen der Abfahrt: Vor seiner Kampagne in die Karibik erhält Cotignons Kapitän die Anordnung, Vorräte für ein halbes Jahr an Bord zu schaffen. Voll beladen wartet die Mannschaft auf den Befehl zur Einschiffung – fünf Monate lang. Als der Befehl endlich kommt, hat die ausharrende Besatzung die meisten Lebensmittel verzehrt und muss das Schiff aufs Neue mit Speis und Trank bestücken. 

Eine so einfache Tätigkeit wie das Essen: In der Marine mutiert sie zum bürokratischen Wahnsinn. Jede Be- und Entladung von Vorräten, die verspeisten Mengen, jeder noch so geringe Erwerb von frischen Lebensmitteln unterwegs müssen sorgfältigst notiert und von oben abgesegnet werden. Endlose Reihen verschnörkelter und von höflicher Etikette umständlich gespickter Berichte und Auflistungen schlummern heute in den Archiven, um von den Auswüchsen dieser Verwaltung zu zeugen.

Als ehrgeiziger Offizier voller Elan und Vaterlandstreue übernimmt Cotignon den umständlichen Stil jedoch freimütig – zum Glück! Denn seine Notizen enthalten neben glasklarer Erinnerungen an persönliche Erfahrungen und Gespräche eben auch jene detaillierten Aufzeichnungen, denen wir heute einen großartigen Einblick in die Versorgung von Schiffen verdanken. 

Nehmen wir etwa die Beladung der Flèche, auf der Cotignon den Atlantik von den karibischen Inseln bis ins heimatliche Frankreich queren soll. Säckeweise Schiffszwieback und Bohnen landen in den Laderäumen der Korvette, Obst- und Gemüsevorräte werden aufgefrischt. Fünf Fässer Salz, vier Fässer Essig und eine Menge eingesalzener Lebensmittel zählt Cotignon noch auf – bei aller Akkuratesse sicherlich kein vollständiger Bericht. In den exakten Auflistungen von Kapitänen finden sich etwa auch Mehl und Butter, Öl und Oliven, Kaffee und Honig. Genaue Angaben gibt der junge Offizier allerdings bei Wein und Schnaps: Vier größere und 16 kleinere Fässchen des eau-de-vie kommen an Bord, zusammen mit 30 Fässern Wein à 450 Liter. Für Kopfrechner: Bei einer Überfahrt von etwa einem Monat machte das auf die 130 Mann starke Besatzung knapp dreieinhalb Liter pro Tag und Kopf. Eine äußerst großzügige Bemessung: Laut Marinevorschrift steht jedem Mannschaftsmitglied zu diesem Zeitpunkt etwa ein Dreiviertelliter täglich zu. In rauen Mengen landet zudem Trinkwasser unter Deck des Schiffes. Für dessen Beladung sind die Schiffe auf Häfen angewiesen, die über eine große Zisterne verfügen. Neben dem karibischen Fort-Royal, wo die Flèche reisetauglich ausgestattet wird, nennt Cotignon im Verlauf seiner Memoiren unter anderem Tripolis und Athen, das spanische Malaga, Lissabon und das indische Fort de la Goade als Hafenstädte mit Möglichkeit zur Wasserversorgung. 

Viel wertvoller noch als vollständige Angaben über Schiffsbeladungen – davon gibt es in den Archiven sicher genug – sind die vielen kleinen Bemerkungen zum Essen, die Cotignon in seinen Memoiren einstreut. So erfahren wir von ihm, dass sich die Mannschaft auf Malta Melonen und Orangen schmecken lässt, auf Zypern erweitern Datteln, Feigen und Muscheln den Speiseplan. In der Türkei trinken die Offiziere Kaffee und Tee, mit holländischen Gastgebern in Indien berauschen sie sich an Bier und Punsch. Für die wortwörtlich fleischlichen Gelüste hält sich die Besatzung an Bord einen lebenden Vorrat aus Rindern, Schafen und Geflügel. Einmal berichtet Cotignon vom Erwerb einer Muttersau: Das offenbar recht stattliche Tier soll bei der Rückkehr nach Frankreich gewinnbringend verkauft werden – die Jungen enden unterwegs als Spanferkel. 

Am liebsten bessert der Adelsmann seine Tafel jedoch eigenhändig auf. Wann immer es ihm möglich ist, frönt er mit seinen Kameraden seiner großen Leidenschaft, der Jagd. Hasen, Rebhühner, Wachteln und Enten in den heimatlichen Breitengraden, Echsen, Springböcke und Vögel aller Art in südlicheren Gefielden – kein Tier ist vor den Kugeln Cotignons sicher. Zu seinem Glück: Um in französischen Kolonien jagen zu dürfen, bedarf es der Erlaubnis des Gouverneurs oder der Einladung adeliger Landbesitzer. Als hervorragender Schütze und begnadeter Hornbläser ist Cotignon bei deren Jagdpartien ein gerngesehener Gast. Selten denkt der Adelsmann dabei nur an das eigene Vergnügen. Vielmehr erfüllt er eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Seinen Gastgebern dankt er mit auserlesener Beute, dem Koch des Kapitäns legt er die erlegten Tiere zur Wahl der besten Stücke vor. Und es bleibt nicht bei der Umschmeichelung ranghöherer Adeliger. Als anständiger Offizier bringt Cotignon auch der einfachen Mannschaft stets frisches Fleisch mit. 

Anders als die Männer von Rang und Adel, die sich bevorzugt an Delikatessen wie Elchen und Gazellen gütlich tun, erheben die Matrosen keine großen Ansprüche. Auf See, erzählt Cotignon, stellen sie den Ratten und Katzen an Bord nach. An Land erweitern Affen die Palette – und auch mit den für verwöhnte Gaumen ungenießbaren Seewölfen, die die Offiziere wegen deren Fell erlegen, geben sie sich dankend zufrieden. Denn nicht jeder erhält auf einem Schiff die selbe Verköstigung. Kapitän und ranghohe Offiziere speisen an einem Tisch und werden eigens bekocht, die Gardes de la Marine, denen Cotignon angehört, verfügen ebenfalls über eine Tafel samt Koch. Zwar ist, wie schon beschrieben, der Kapitän für die Schiffsbeladung zuständig. Vonseiten der königlichen Kasse verfügt er über ein Pro-Kopf-Budget: drei livres und zehn sols, umgerechnet einen Betrag zwischen 15 und 30 Euro, erhält er für die tägliche Verpflegung eines Offiziers. Doch aus den Memoiren geht hervor, dass die Adligen ihren Speiseplan häufig aus eigenen Mitteln erweitern und sich selber um Vorräte kümmern. Auch sonst müssen sich die Offiziere ihre gehobene Küche teuer kosten lassen: Die Hälfte seines ersten Jahressolds landet laut Cotignon in der Kasse des eigens angeheuerten Oberkellners.

Wer hat, dem wird gegeben. Nicht nur bei der Versorgung an Bord, nein, auch bei Zwischenstopps rund um den Globus profitieren die Offiziere von ihrem Stand. Die mangelnde Finesse der Schiffsernährung ist jedermann bekannt – und so laden die Gouverneure französischer Stützpunkte stets zu Gastmählern ein. Neben großen Veranstaltungen mit Tanz und Musik gibt es ein festes Ritual: Jeden Abend dürfen im Wechsel je vier Offiziere an der Tafel des Gouverneurs speisen. Große Freude bereitet Cotignon auch das Frühstück, das ein Gouverneur einmal an Bord bringt. Er trägt zu diesem Zeitpunkt selbst die Last der Verantwortung auf seinen Schultern, als Kapitän eines kleinen Schoners in der Karibik. Um seine Vorräte ist es knapp bestellt – umso überschwänglicher fällt sein Lob über die reichhaltige Gabe aus. Ab und an also sorgt die ungeschriebene Etikette für abwechslungsreichere Kost – wenigstens für einen kleinen Teil der Besatzung. 

Wenn es für die einfache Mannschaft schon kein Spitzenmenü sein darf, so doch immerhin frischer Fisch. Den fangen die Matrosen sowohl in Häfen als auch auf dem offenen Meer. Oft sind es Heringe, die den Männern ins Netz gehen und die neben dem sofortigen Verzehr für eine längere Lagerung geeignet sind. Hinzu kommen Bücklinge, Seezungen, Bonitos und sogar Schweinswale, die mit Harpunen erlegt werden. Einmal stößt das Schiff Cotignons auf einen Schwarm fliegender Fische – der Offizier sieht die Tiere zum ersten Mal. Ihre Kuriosität bewahrt die Tiere jedoch nicht vor dem Schicksal ihrer Artgenossen, auch sie landen im Kochtopf. 

Bei allem Standesbewusstsein erweist sich der Adelsmann, der schon für die Jagd keine Mühe scheut, auch beim Fischen als pragmatischer Zupacker. Die Arbeit der einfachen Matrosen ist ihm nicht fremd, auch als Kapitän legt er gemeinsam mit ihnen Hand an die Netze. Gelegentlich gelangen die Fische aber auch auf bequemerem Weg an Deck: per Kauf. Im Mittelmeer zwischen Griechenland und der Türkei etwa erwirbt die Besatzung den Fang zweier griechischer Fischer. 

So umständlich die Nahrungsmittelversorgung in der französischen Marine auch ist, so eintönig der Speiseplan: Skorbut müssen die Seemänner gegen Ende des 18. Jahrhunderts wenigstens nicht fürchten. Zu verdanken haben sie das vor allem schnelleren Schiffen. Nur einen Monat benötigt das Schiff Cotignons für die Überquerung des Atlantik, rund zwei Monate ist er von Indien aus nach Frankreich unterwegs. Nicht jedes Schiff schafft die enormen Strecken in so kurzer Zeit – schwere Beladung etwa von Handelsschiffen, schlechte Betakelung und natürlich die See selber vermögen eine Reise auf ungewisse Zeit zu verlängern. Problematisch ist auch das nicht: Schließlich gehen die Besatzungen unterwegs regelmäßig vor Anker, um frische Vorräte aufzufüllen. 

Und obwohl es dem Adelsmann nicht schmeckt: Auch von einer Diätkost aus Zwieback und Trockengemüse kommt niemand sofort um. Zudem nimmt die Zeit der kargen Schiffsernährung für Cotignon ein unvorhergesehenes Ende: Die königstreue Offiziersgarde fällt der Revolution zum Opfer. Die fünftägige Hungerstrecke von Brest nach Blaye markiert das Ende seiner vielversprechenden Marinelaufbahn, die kulinarisch so unbefriedigende Reise soll gleichzeitig seine letzte sein. 

Quelle: 

Mémoires du Chevalier de Cotignon gentilhomme nivernais officier de marine de sa majesté louis le seizième présentés par le Médecin-Général A. Carré de l'Académie de Marine, Grenoble 1974. 

Empfohlene Zitierweise

Pistorius, Magdalena: Von Zwieback und Spanferkeln — ein Essay zur Lebensmittelversorgung auf See im späten 18. Jahrhundert. Basierend auf den Memoiren des französischen Marineoffiziers Jean-Jacques de Cotignon. aventinus nova Nr. 50 [30.11.2014] , in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9897/

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Erstellt: 29.11.2014

Zuletzt geändert: 03.12.2014

ISSN 2194-1963