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aventinus recensio Nr. 36 [28.02.2013] 

Mike Plitt 

Hans-Henning Hahn / Robert Traba (Hrsg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 3: Parallelen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012. ISBN 978-3-506-77341-8 

 

Seit Pierre Noras zwischen 1984 und 1992 erschienenem Opus Magnum der französischen lieux de mémoires hat das Konzept der Erinnerungsorte in zahlreichen Ländern Anwendung gefunden. So haben seit Noras Vorstoß Italien (1996-1997), Deutschland (2001), Österreich (2004-2005), die Niederlande (2005–2007), Luxemburg (2007), Russland (2007) und die Schweiz (2010) ›Kristallisationspunkte‹ ausgewählt, die sie als maßgebend für ihre nationale Identitätsfindung und ihr nationales Gedächtnis erachten. Es lässt sich – frei nach Jay Winter – ein regelrechter „Erinnerungsorte-Boom“ konstatieren, obwohl Noras Konzept inzwischen einiges an Kritik einstecken musste. 

Mit den „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorten“, herausgegeben von den Osteuropahistorikern Robert Traba und Hans-Henning Hahn, reiht sich nun ein weiteres Werk in die Norasche Tradition ein, das sich allerdings durch seinen bilateralen Ansatz von seinen Vorgängern abzusetzen weiß. Die Publikation ist das Ergebnis eines auf fünf Jahre angelegten Forschungsvorhabens, das durchaus mit dem Begriff ›Mammutprojekt‹ bezeichnet werden kann: Mehr als 130 Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen der Wissenschaft und neun Bände in zwei Sprachen (fünf davon auf Deutsch) sollen ein Panoptikum der deutsch-polnischen Erinnerungslandschaft abbilden. Den Anfang macht dabei der in der Reihe zuerst erschienene und auf knapp 500 Seiten 22 Beiträge umfassende „Band 3: Parallelen“. 

Dieser Band, der laut Herausgeber als „Appetizer“ (S. 13) auf die Lektüre der weiteren Bände zu verstehen ist, versucht über Gemeinsamkeiten Zugänge zu zwei verschiedenen Erinnerungskulturen zu eröffnen und orientiert sich dabei am Konzept der Beziehungsgeschichte des Osteuropahistorikers Klaus Zernack. Die thematische Vielfalt der behandelten Erinnerungsorte reicht dabei von imaginierten Raumkonzepten bis zu den Protagonisten des abendlichen Kinderfernsehens, wobei sich dem Leser auf den ersten Blick ins Inhaltsverzeichnis die Frage nach der Relevanz und Repräsentativität solcher Orte stellen dürfte. In ihrem Einführungstext begegnen die Herausgeber einem etwaigen Vorwurf der Beliebigkeit präventiv, indem sie die „Identitätsrelevanz“ (S. 16) und „historische Wirkungsmacht“ (S. 16) als Parameter für die ihre Auswahl klar benennen und insbesondere den Auswahlprozess in ihrem Projekt hervorheben. So seien die Themen nicht willkürlich ausgesucht worden, sondern stellten vielmehr das diskursive Ergebnis eines intensiven interdisziplinären Austauschs von Wissenschaftlern dar. Neben diesem Aspekt zeichnet sich das Vorhaben auch durch eine hohe Transparenz aus, die sich in der Online-Veröffentlichung der vorgeschlagenen Erinnerungsorte sowie statistischer Angaben zum Projekt selbst (wie z.B. Geschlecht der Autoren oder Altersstruktur in Prozent) widerspiegelt. [1] Dies ist eine wichtige Ergänzung zum Buchprodukt, die eine weitere dynamische Debatte um die Erinnerungsorte ermöglicht, indem sie die hier präsentierte Auswahl nicht als nonplusultra darstellt.

Bestes Beispiel für die durchaus streitbare Auswahl dürfte der Beitrag von Diethelm Blecking zum Thema Fußball sein, der als polnisches Pendant zum Wunder von Bern 1954 ein Remis im Qualifikationsspiel in Wembley 1973 ausmacht. Der Fußballconnaisseur hätte hier wohl Polens Sieg gegen Brasilien im Spiel um Platz drei bei der in Deutschland ausgetragenen WM 1974 vermutet, doch Blecking erklärt plausibel, wieso das „scheinbar unspektakuläre“ (S. 415) 1:1 gegen England von ähnlicher Tragweite ist, wie der Gewinn der ersten Weltmeisterschaft auf bundesdeutscher Seite: Das Remis bedeutete nach Jahren der Bedeutungslosigkeit Polens Rückkehr in den Kreis der respektierten Fußballnationen und machte die legendäre ›Wasserschlacht von Frankfurt‹ sowie den Sieg gegen Brasilien erst möglich. Die Intention der Publikation wird deutlich: Sie will nicht zwei gleiche Erinnerungsorte in Relation setzen, sondern vielmehr ähnliche Strukturen in den jeweiligen Fallbeispielen herausarbeiten. 

Der mit der Thematik vertraute Leser wird im Inhaltsverzeichnis auf viele Erinnerungsorte stoßen, die bereits in den von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebenen „Deutschen Erinnerungsorten“ behandelt wurden. Dennoch müssen keine bloßen Wiederholungen bezüglich des deutschen Teils befürchtet werden, denn die behandelten Beiträge liefern zahlreiche neue Perspektiven auf die vorgestellten Erinnerungsorte. So besticht der von Magdalena Pyzio und Magdalena Saryusz-Wolska gemeinsam verfasste Artikel zum VW-Käfer, Maluch und Trabi durch eine genderbezogene Betrachtung des Themas, indem sie die drei vorgestellten Automobile als „Attribut der Männlichkeit“ (S. 432) entlarven und im Streben nach „Besitz, Freiheit, Distinktion und Macht“ (S. 448) das gemeinsame Charakteristikum ausmachen. Gleichzeitig zeigen die Autorinnen, dass die Polen im Verhältnis zu Deutschland nicht nur den Käfer bewunderten, sondern selbst auf die in der Bundesrepublik belächelten Trabanten und Wartburgs sehnsüchtige Blicke geworfen haben sollen. 

Wie kompliziert und belastet die deutsch-polnische Geschichte ist, wird besonders im Beitrag von Corinna Fleisch und Magdalena Latkowska deutlich, in dem der Versöhnungsbrief der polnischen Bischöfe an das Deutsche Episkopat 1965 mit dem berühmten Kniefall Willy Brandts des Jahres 1970 gegenüberstellt wird. Während Letzterer photographisch festgehalten wurde und mit der Zeit zur Ikone des deutsch-polnischen Verhältnisses avancieren konnte, verhallte der polnische Annäherungsversuch aufgrund der kühlen Antwort der deutschen Kollegen sowie der darauf folgenden politischen Repression in der Volksrepublik Polen und ist somit im deutschen als auch im polnischen Gedächtnis weniger präsent. Gemeinsam ist beiden Gesten die retardierte positive Wahrnehmung, für die die Autorinnen den Ballast der Kontroversen um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in Deutschland und Polen ausmachen.

Ein weiteres Problem im deutsch-polnischen Verhältnis ist die zweifelsohne bestehende Dichotomie des Wissens über den Anderen: Während man für Goethe eine allgemeine Bekanntheit in Polen postulieren kann, ist der polnische Nationaldichter in Deutschland nur den wenigsten ein Begriff. Diesem Gefälle trägt der Band und ganz besonders Heinrich Olschowsky Rechnung, indem er in seinem Beitrag zu den beiden Nationaldichtern Goethe und Mickiewicz den Fokus auf Letzteren richtet. Olschowsky gelingt es, in Kürze eine rezeptionsgeschichtliche Darstellung beider Dichter zu leisten und er konstatiert als große gemeinsame Parallele, dass sie sich politisch nur schwer instrumentalisieren ließen. Ihren wesentlichen Unterschied macht er im persönlichen Aufeinandertreffen beider Protagonisten deutlich, bei dem der polnische Nationaldichter für seine Vaterlandsliebe von Goethe verspottet wurde, da dieser das Konzept der Nation ablehnte, was Mickiewicz mehr als irritierte. Diese Divergenz lässt sich auch heute noch in Bezug auf den unterschiedlich stark ausgeprägten Patriotismus beider Länder beobachten. 

Die Aufsätze überzeugen in Gänze, geben sie doch alle einen komparatistischen und rezeptionsgeschichtlichen Überblick der Erinnerungsorte, ergänzt durch zahlreiche Literaturverweise. Vor allem die klare Struktur der Beiträge überzeugt: Auf die Beschreibung der Erinnerungsorte im Sinne einer Geschichte ersten Grades folgt die „Lektüre der Erinnerungsgeschichte“ (S. 18). Gelungen ist das Projekt auch, weil die Autoren keinen „Versöhnungskitsch“ (Klaus Bachmann) betreiben und die Orte nach den eingangs erwähnten Kriterien ausgewählt wurden, was angesichts der gemeinsamen historischen Vorgeschichte beider Länder keine Selbstverständlichkeit darstellt. Zu kritisieren sind die teilweise etwas kryptisch geratenen Übersetzungen, die das Lesevergnügen ein wenig schmälern. Rätselhaft am Gesamtkonzept ist die Anzahl der Bände: So wird in der Einführung zwar darauf hingewiesen, dass die Bände I bis IV gleichzeitig auf dem deutschen und polnischen Buchmarkt erscheinen. Band wird V jedoch nur auf Deutsch publiziert und beinhaltet Texte polnischer Sozial-und Kulturwissenschaftler über die Erinnerungsproblematik in Polen. Eine deutsche Perspektive auf das Thema wäre für das polnische Publikum sicherlich ebenfalls von Interesse gewesen – eine Erklärung für diese Asymmetrie bleiben die Herausgeber schuldig. 

Nichtsdestotrotz sind die „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“ eine Bereicherung für Wissenschaftler, die ein (Teil-)Kompendium der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte suchen und für Interessierte, die über die Dekonstruktion nationaler Mythen, Persönlichkeiten und historischen Ereignissen sowohl mehr über ihren Nachbarn als auch über die Erinnerungskultur der eigenen Gesellschaft erfahren wollen. Ob das in der Einführung selbst gesteckte Ziel eine breite Leserschaft anzusprechen trotz des üppigen Preises von 58 Euro erreichbar ist, wird jedoch abzuwarten sein.

Mike Plitt ist Student des Masterstudiengangs Kulturgeschichte Mittel-und Osteuropas an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und arbeitet zu den Themen der Erinnerungsorte und Erinnerungspolitik, der deutsch-polnischen und polnisch-französischen Beziehungsgeschichte sowie der Darstellung von Geschichte in der Graphic Novel.  

Empfohlene Zitierweise

Plitt, Mike: Rezension Hans-Henning Hahn / Robert Traba (Hrsg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 3: Parallelen, Verlag Ferdinand Schöningh 2012. ISBN 978-3-506-77341-8. aventinus recensio Nr. 36 [28.02.2013], in: aventinus, URL: https://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9778/

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Erstellt: 06.03.2013

Zuletzt geändert: 07.03.2013

ISSN 2194-2137

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